Mein melancholischer Beerensommer

Letzten Sommer gönnten wir uns jeden Morgen einen Beerenteller. Heidelbeeren, eine handvoll Him- und Brombeeren, grüne und rote Weinbeeren. Dann ein paar frisch geerntete Erdbeeren aus der Umgebung. Ein paar Zwetschken und Marillenhälften dazu. Was für eine Lust in diese Vielfalt hineinzugreifen. Gut, Angefaulte sind manchmal auch dabei. Macht nichts, die stören kaum die üppige Beerenpracht und den herzhaften Genuss. So wie unsere Demokratie sein sollte, denke ich wehmütig. Bunt, anregend, vielfältig. Leider verderben dort verdorbene und fade Früchtchen den ganzen Genuss.

Demokratie mit Regiefehlern
Schade nur, dass Demokratie zur Zeit nicht so gut auschaut wie Annelieses Beerenteller. Die Schweizer, ja die kriegen Kanton für Kanton viel öfter Ihre Portion auf den Tisch. Süß, säuerlich, bitter, lieblich … Mal mag man die lieber, mal die andere. Alle Beeren zusammen machen die Schweizer stolzer und zufriedener. Da ist zwar auch viel Verklärung dabei aber trotz der gelegentlich aufkommenden Wahlmüdigkeit gibt dieses System viel mehr engagierten Bürgern die Möglichkeit Ihren Lebensraum aktiv mitzugestalten.
Und hier? Demokratische Alltagsübungen haben uns zeitweise lustlos agierende Funktionäre der „Sozialpartnerschaft“ abgenommen. Aber, denke ich zufrieden, ich bin ja hauptsächlich Salzburger, genau genommen Taxhamer. In unserer Region ist alles ein wenig anders …

Makelloser Schein, perfekte Inszenierung
Zum Beispiel unsere spezielles Salzburger Klima. Eine elegante Inszenierung bringt unsere Gesellschaftsordnung als fast makellose Demokratievorstellung > auf die Bühne. Proporz, sichere Pfründe. Schwarz, Rot, Blau, Grün. Niemand hat daran etwas auszusetzen. Es funktioniert einfach zu gut.  Schwarz drahtet am besten zu St. Peter, den Trachtenvereinen der Wirtschaftskammer und Landbesitzern. Rot darf von Zeit zu Zeit  „maßvoll“ ein wenig Avantgarde über Stadt und Land streuen,  das Präkariat ruhig halten und Konsumenten vor grauslichem Vitrinenfleisch schützen. Die Grünen grübeln mit ihrem gelassenen Vorsitzenden in konspirativen Zirkeln über ihre politische Botschaft nach und sind für alle Fälle bereit. Alle dürfen beim großen Salzburger Harmoniespiel mitmachen. Ein Schulsystem, das neben erstklassigen Schulen für angehenden Kabelträger der Funktionselite, bescheidene, fleissige und gut funktionierende Untertanen produziert. Mit dabei sind auch des Landes größte Zeitung und das Landesfernsehen. Beide halten durch ihre „ausgewogene“ und „ausgesuchte“ Berichterstattung den Zornpegel niedrig. Parteien, für die Wahlkampf immer entbehrlicher zu werden scheint und eine Bevölkerung für die Wählengehen zum wenig hinterfragten Ritual geworden ist, haben auffällig wenig aneinander auszusetzen.  Lodenprinzen, Lodenzwerge, Denker, Schnapsnasen, Habenichtse und Spielleute, leben ordentlich und sauber parzelliert nebeneinander.

Die Idylle und ihr Preis
Salzburg bezahlt seine Idylle mit Agonie. Der erdölgetriebene Verkehr einer anhaltenden Prosperität frisst ganze Straßenzüge, zwingt Menschen dazu sich lärm- und feinstoffsicher einzubunkern, rollt über eine 24 Stunden lang kreischende und dröhnende Autobahn. Ruhe, Schlaf, Gesundheit, Wildnis, Weite, und Vielfalt im Tausch für ein bequemes Leben für die meisten von uns.  Auf Schritt und Tritt begleitet uns der Takt einer perfekt funktionierenden Gesellschaftsmaschine. Ordentlich begehbare und vermarktbare Naturräume als Ersatzerlebnis für Beton, Lärm, Gestank und Asphalt des Sklavengürtels mit seiner etwas verwahrlost erscheinenden aber gut funktionierenden Infrastruktur und der grottenhässlichen Architektur.  Wie eine verbeulte Papschachtel umschließt er  das historische Kleinod der Altstadt. Trotzdem, Salzburg ist ein hartes Astauge im langsam vermodernden Österreichbewusstsein. Der Widerstand gegen Vereinnahmung ist größer als anderswo. Als Österreicher haben wir immer weniger woran wir uns erkennen, worauf wir stolz sein können. Als Salzburger immer mehr. Dafür sorgen Traditionspflege und die Förderung von allem, was dieses Land besonders gut abzubilden vermag. Dazu gehören Brauchtum, Kunsthandwerk genauso wie eine Vielzahl von Kulturveranstaltungen. Gegenwart und Zukunft? Mitreissende Visionen, elektrisierende Entwürfe? Wilde ungeregelte Räume für soziale Experimente? Die kann man ja gerne wo anders erleben. Unsere Eliten wollen Ruhe und in Ruhe gelassen werden. Die Tonlage zwischen Förderalisten und Zentralisten wird dagegen schriller. Wien rückt für viele immer weiter weg, dafür kommt Berchtesgaden immer näher. Churchills Wunsch nach einer Vereinigung von Bayern mit Österreich > scheint nach 65 Jahren in Erfüllung zu gehen. Aber Europa tut derweil seine Wirkung, verwandelt Nationen allmählich zu Regionen. Behutsam. Damit sich der Widerstand in Grenzen hält. Wo die Reise hingeht ist ungewiss.

Ungeduld und Stimmungslage
Die zauberhafte Stadt, das schöne Land. Manchmal zum Umarmen, manchmal zum Verhöhnen. Aber wer bin ich eigentlich der das darf? Ich bin ganz objektiv einer mit allen Sinnen ausgestatteter Bürger, der Lärm, Gestank und Verwahrlosung als etwas Schlimmes wahrnimmt. Je nach Stimmung einmal mehr und mal weniger. Was dauerhaft bleibt ist eine überaus störende Hintergrundwahrnehmung die den Großteil der Menschen in diesem Land vom vollen Genuß der Zustände abhält. Schönheitsfehler? Mitnichten! Das ist Folter. An keinem Punkt des Landes herrscht Stille und der Gestank der Abgase würde Nasen aus vergangenen Jahrhunderten verzweifeln lassen. Wäre da nicht die wundersame Eigenschaft der Gewöhnung. Nur, ein kleiner Teil der Gesellschaft, jener an der Spitze der Pyramide genießt das Selbstverständliche. Ruhe, saubere Luft und ein schönes Ambiente. Ihr Ameisenheer, das stoisch den erwirtschafteten Reichtum nach oben schleppt verkommt derweil im selbst verursachten Dreck und Gestank. Ungeheuerlich eigentlich wie wir mit unseren veralteten, stinkenden Fortbewegungsmittel den Platz für Gemeinschafts- und Spielräume verstellen und verhunzen. Ein Heer von Blech verschlingt fast soviel Raum wie die Häuser in denen wir leben. Aber was würde geschehen, wenn sich plötzlich Vernunft epidemisch ausbreiten würde und in Taxham immer mehr Einwohner mit den Öffis fahren würden? Nicht auszudenken und auszuhalten, das Gedränge, grüble ich wehmütig während ich am frühen Nachmittag fast alleine mit dem 20er Richtung Hanuschplatz fahre.

Wo eine Hölle, da auch ein Himmel
Einer der in diese beschauliche Idylle Salzburgs so gar nicht hineinzupassen scheint, ist der Oberndorfer Philosoph und Nationalökonom Leopold Kohr. Manchmal denke ich, ob viele seiner Huldiger diesem eloquenten, ironischen Intellektuellen einfach nur auf den Leim gegangen sind. Nur ganz wenige, so vermute ich, haben seine Bücher und die Textsammlungen seiner Herausgeber wirklich gelesen und den darin enthaltenen politischen Sprengstoff entdeckt. Vorsichtig wird er ja verdächtig oft „der sanfte Anarchist“ genannt (Eigendarstellung Kohrs) . Seine Forderung nach der Durchsetzung des menschlichen Maßes kommt einer Kriegserklärung gegen Globalisierung, Zentralismus und hemmungslosen Wachstums gleich.  Seine Rebellion ist eine fantastische, visionäre bei der niemand zu Schaden kommt. Sein Werk attackiert indirekt die gnadenlose Diktatur der Uhr. Sie bestimmt den Wahnsinnsverkehr, den Konsumterror und den aberwitzigen Aktienhandel an den Börsen dessen Großcomputer in Microsekunden millionenfache Transaktionen durch die Leitungen jagen. Es wird Zeit über Enklaven nachzudenken, wo weniger Computer sondern Menschen das Tempo bestimmen. Wo seine Ressourcen und Rituale zu etwas Kostbaren werden und nicht zum beliebig verschleuderbaren Gut im hemmungslosen Wachstumswahn verkommen.
Die sanften Revolutionäre formieren sich aber, infiltrieren das System, verändern das Denken der Menschen oben und unten. Man spürt es, fast kann man es schon greifen. Wir stecken schon mitten im Auge des Wirbelsturms. Es wird besser und schöner werden und immer wird es von etwas anderem bedroht sein. Nur so dreht sich das Rad der Menschheit weiter. Das ist unser Schicksal.

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